COVID-Impfkampagne: Hohes Tempo braucht Prozesssicherheit
„Impfen, impfen, impfen und mehr Pragmatismus“, lautet vielerorts das Gebot der Stunde zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Doch Vorsicht ist angebracht. Die temperatursensiblen Transporte erreichen in der Pharmalogistik eine Dimension, die bislang kaum vorstellbar war.
Die Impfkampagne kommt einer Qualitätsoffensive für die Pharmalogistik gleich. Bisher sollten die Massenimpfungen mit den weniger temperaturempfindlichen Vektorimpfstoffen bestritten werden. Doch zeichnet sich ab, dass nun die hochgradig temperatursensiblen mRNA-Covid-19-Impfstoffen den Schwerpunkt bilden. Die gesamte Logistikkette – Hersteller, Impfzentren, Großhandel, Apotheken und Arztpraxen – können die aufwendige Handhabung nur mit stringenter Prozesssicherheit bewältigen.
Just-in-Time wird zur Herausforderung
Den Qualitätsrahmen setzen die weltweit geltenden Anforderungen nach GDP (Good Distribution Practice). Damit hat der Großhandel die gleiche Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit wie die Produktion. Alle Beteiligten der Logistikkette sind gut beraten, sich vom Hersteller die Qualitätsspezifikationen wie z. B. Temperaturangaben, Transportbehälter und -bedingungen exakt vorgegeben zu lassen, bevor Transport, Warenannahme und Lagerung geplant werden. Beispielsweise sind starke Erschütterungen auf die Durchstechflaschen des COVID-Impfstoffs und/oder Spritzen bereits während des Transports unbedingt zu vermeiden, weil der Impfstoff laut Hersteller sonst unbrauchbar werde.
Die ultra-tiefgekühlten mRNA-Impfstoffe verlassen die Hersteller in Thermoversandbehältern und gelangen über den pharmazeutischen Großhandel, die Apotheken und nach weiterer Aufbereitung in die Arztpraxen. Dort werden die Dosen meist just-in-time innerhalb von Stunden verdünnt und verabreicht, so dass im Gegensatz zu den Impfzentren kaum Lagerbestände entstehen. Ein Thermoversandbehälter beispielsweise vom Hersteller Biontech enthält 23 kg Pellets mit dem Gefahrstoff Trockeneis zur Kühlung des Impfstoffs bei -75 °C (± 15 °C) sowie fünf Faltschachteln mit jeweils 195 Durchstechflaschen. Bei diesen Temperaturen ist der gefrorene Impfstoff im Tieftemperatur-Gefrierschrank sechs Monate haltbar. Ungeöffnet lässt sich Impfstoff noch fünf Tage in handelsüblichen Kühlschränken bei 2 bis 8 °C aufbewahren. Liegt die Umgebungstemperatur allerdings über 2 bis 8 °C, muss der Impfstoff innerhalb von sechs Stunden bei maximal 30°C Raumtemperatur verwendet werden.
Bekannte Qualitätsrisiken
Zwar sind die Einsatzmöglichkeiten der mRNA-Impfstoffe durch die differenzierten Temperaturvorgaben deutlich flexibler geworden. Doch das GDP erforderliche Mapping der Temperaturbereiche über mehrere Stufen, Tage und Wochen birgt erhebliche Qualitätsrisiken. In Audits lässt sich immer wieder feststellen, dass die Sorgfaltspflichten der Auftraggeber sowie der Auftragnehmer in den Zwischenstufen nicht eingehalten werden. Es entstehen Auffälligkeiten beim Temperatur-Mapping, oder die Rückverfolgung ist lückenhaft. Häufig wird weder dokumentiert, noch überprüft. Von der einmal festgestellten formalen Korrektheit des Wareneingangs pauschal auszugehen, greift daher zu kurz.
Gerade um den Erfolg der Corona-Impfkampagne festzustellen, ist die lückenlose Dokumentation aller relevanten Prozessdaten wie Liefermengen, Temperatur, Entnahmen, Beschädigungen von höchster Bedeutung. Treten dennoch Abweichungen auf, muss der Empfänger rechtzeitig in der Lage sein, die Lieferung sachgemäß separieren und austauschen zu können. Somit entscheidet nicht die technische Ausrüstung über ein funktionierendes Qualitätsmanagement, sondern die Prozesssicherheit.
Grundsätzlich gilt: mit der Anzahl der Zwischenstufen steigt die Gefahr von unsachgemäßen Transporten oder Sicherungen. Eine sorgfältige und fehlerfrei dokumentierte Risikobewertung kann in einem Einzelfall mehr bewirken als z. B. falsch bediente Messsysteme. Die kontinuierliche Validierung der Organisationsstruktur, der Arbeitsanweisungen und Verantwortlichkeiten im Transport-Prozess sind grundlegend, damit die Impfkampagne auch über das letzte Glied der Supply Chain ihre Wirkung entfalten kann.
Andreas Biermann ist Auditor und Leiter des Bereichs Logistik, Ver- und Entsorgung bei der Dekra Certification GmbH, Stuttgart.