Corona-Impfung: Der Stresstest für die Pharmalogistik
COVID-19 stellt auch die Logistik vor eine Jahrhundert-Aufgabe. Der aktuell größte Hoffnungsträger, der RNA-basierte Impfstoff BNT162b2, muss bei mindestens -70°C gelagert werden. Folglich werden temperatursensible Transporte in der Pharmalogistik eine Dimension erreichen, die bislang kaum vorstellbar war. Für die Pandemie-Bekämpfung sind Prognosen zufolge über 15.000 Flüge und 200.000 Paletten-Transporte notwendig.
Gefahrgut Trockeneis
Nicht nur das Mapping der Temperatur birgt Qualitätsrisiken. Die Kühlleistung ist nur mit dem Gefahrgut Trockeneis möglich. Sobald das feste Kohlenstoffdioxid wärmer als -78,4 °C wird, geht es direkt in gasförmiges, geruchsloses Kohlenstoffdioxid über. Im Luftverkehr darf Gefahrgut nur durch ein IATA-DGR (International Air Transport Association – Dangerous Goods) geschultes Personal versendet werden. Im Fall des mRNA-Impfstoffs benötigen Logistiker die Zulassung der Luftverkehrsbehörden, um die Transportmenge der Kühlpakete abzustimmen. Je kleiner das freie Volumen im Laderaum ist, desto höher die Konzentration an Kohlendioxid, was sowohl für den Luftverkehr als auch für die Straße eine Gefahr darstellt. Folglich müssen die Verpackungen den sehr geringen Temperaturen standhalten. Die Gasentlastung zur Verhinderung eines Druckaufbaus muss möglich sein. Zu keiner Zeit darf durch unsachgemäße Raumaufteilungen Erstickungsgefahr bestehen. Allein diese Anforderungen benötigen ein hohes Maß an Qualitätssicherung.
Schwachstellen der Pharmalogistik
Prinzipiell kann eine durchgehende Lieferkette mit Tiefsttemperaturen errichtet werden. Doch schon bei herkömmlichen Arzneimitteln weisen Lagerung und Transporte teils eklatante Schwachstellen auf, die auch bei den Lieferproblemen der Schutzausrüstung zu Beginn der Corona-Pandemie sichtbar wurden. In Audits sehen wir häufig, dass die erforderlichen Lagerbedingungen während des gesamten Transportwegs durch fehlenden Schutz vor thermischen Einflüssen nicht eingehalten werden. Ebenso sehen wir Mängel bei Lagerhallen mit nicht gewarteten Temperaturfühlern, bauliche Mängel oder mangelhafte Schädlingsbekämpfung. Teilweise kommt es zum Hitzestau durch fehlende Belüftung insbesondere unter Hallendächern, Kühlschränke sind in Umschlagslagern nicht ausreichend vorhanden. Primärverpackungen werden beim Handling beschädigt.
Zwar regelt die seit März 2016 geltenden DIN Norm SPEC 91323 die Klimatisierung von Nutzfahrzeugen für Arzneimitteltransporte. Und mit den Anforderungen durch GDP (Good Distribution Practice) haben der vollversorgende pharmazeutische Großhandel, Transportanbieter und Logistik-Dienstleister erheblich investiert: von der Temperatur-, Feuchtigkeitskontrolle der Fahrzeuge und Lager, bis hin zu IT-seitigen Vernetzungen mit Kühlketten- und Seriennummernverfolgung. Doch die Probleme der Lagerhaltung und der Distributionssysteme gehen tiefer. Sie sind struktureller Art und könnten auch die Lieferketten der Impfstoffe gegen Corona beeinträchtigen. Kommt es zu Abweichungen – wie z.B. bei der Transportdauer oder beim Öffnen der Klimaschränke – muss der Empfänger rechtzeitig informiert werden, damit die Lieferung sachgemäß separiert werden kann. Genau an diesen organisatorischen Schnittstellen tauchen in der Praxis Lücken oder unsachgemäße Handhabungen auf.
GDP – Maß aller Dinge
In den Zulassungsbehörden findet seit längerem ein Umdenken statt, weg von der Qualität durch Tests, hin zur Qualität durch Planung und Integration aller Prozessbeteiligten. Mit GDP sind Großhändler in ihrer Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit auf das Niveau der Produktion und Fertigung angehoben worden. Logistik-Unternehmen sind daher gut beraten, sich die Qualitätsspezifikationen wie Temperaturangaben, Transportbehälter vom Hersteller exakt vorgegeben zu lassen, bevor der Transport geplant wird. Weil diese Herstellerangaben wiederum an die Zulassung der Arznei geknüpft sind, herrscht im Falle der Notzulassungen des mRNA-Impfstoffs in Großbritannien und in den USA sowie der anstehenden EU-Zulassung hoher Zeitdruck, der nicht zulasten der Qualitätssicherung gehen darf.
Lückenloses Qualitätsmanagement
Von der einmal festgestellten Korrektheit des Wareneingangs pauschal auszugehen, ist nicht im Sinne von GDP. Über die Organisationsstruktur, die Prozesse und Ressourcen ist sicherzustellen, dass auf allen Lieferstufen die Qualität und Unversehrtheit des Arzneimittels erhalten werden. Alle kritischen Vertriebsabläufe und wesentlichen Änderungen sollten begründet und – soweit erforderlich – validiert werden. Ebenso sollte das Qualitätssicherungssystem vollständig dokumentiert und seine Wirksamkeit überwacht werden.
Auch um den Erfolg der Corona-Impfkampagne festzustellen, ist die lückenlose Dokumentation aller relevanten Prozessdaten wie Temperatur, Entnahmen, Beschädigungen von höchster Bedeutung. Dies kann unter hohem Zeitdruck nur elektronisch geschehen. Die hierfür eingesetzte Software muss den Vorgaben gemäß EU GMP Annex 11 und FDA 21 CFR Part 11 entsprechen. Hinzu kommen hohe Anforderungen an die IT-Sicherheit. Die Verteilungswege der Corona-Impfstoffe werden als kritische Infrastruktur einzustufen sein, die wiederum mit einem Managementsystem der Informationssicherheit (ISMS) vor Manipulationen zu sichern sind.
Ein weiterer Punkt ist die physikalische Sicherung der Transporte mittels mechanischer oder elektronischer Verplombung. Nicht zuletzt sind die persönliche Schutzausrüstung in den Umschlaglagern und die berühmte AHA-Regel weiterhin von zentraler Bedeutung. Niedrige Umgebungstemperaturen begünstigen bekanntlich die Verbreitung von Corona-Viren, weshalb die Mitarbeiter auch bei den Hygiene-Maßnahmen höchste Sorgfalt an den Tag legen müssen.
Gelebtes Risikobewusstsein
Sicherheit wird erst mit einem kontinuierlich gelebten Risikobewusstsein erreicht. Jedes Glied in der Lieferkette muss einen relevanten Fehler oder Mangel erkennen und kommunizieren können. Wenn an einer Stelle der Lieferkette keine Temperaturmessung möglich ist, muss eine Risikobewertung erfolgen, die u.a. Fahrtdauer, Außentemperaturen, eingesetztes Fahrzeug, Transportbox oder schriftliche Bestätigungen des Herstellers berücksichtigt. Hier kann eine sorgfältige und fehlerfrei dokumentierte Risikobewertung im Einzelfall mehr bewirken als nachlässig überwachte Messsysteme.
Über den Autor: Andreas Biermann ist Auditor und Leiter des Bereichs Logistik, Ver- und Entsorgung bei DEKRA Certification GmbH, Stuttgart.