Arbeitsschutz: Nachholbedarf in der Sicherheits- und Gesundheitskultur

12. Juli 2023 Audit

Unternehmen werden attraktiver, leistungsstärker und profitabler, wenn sie der Sicherheit, der Gesundheit und dem Wohlbefinden am Arbeitsplatz einen hohen Stellenwert einräumen. Eine resiliente Arbeitsumgebung geht über die Unfallvermeidung weit hinaus und umfasst auch die mentale Gesundheit. Gefährdungsbeurteilungen und Managementsysteme helfen hierbei die physischen und psychischen Risiken der Mitarbeiter zu erkennen und zu minimieren.

In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und dauerhaftem Fachkräftemangel sind gesundheitsfördernde Arbeitsplätze und verlässliche Sozialstandards wichtiger denn je. Ohne sie bleiben Programme zur Mitarbeitermotivation, Performancesteigerung, Prozessoptimierung oder Nachhaltigkeit wirkungslos. Durch gesundheitliche Belastungen in der Belegschaft können nicht nur kleine Unternehmen wirtschaftlich unter Druck geraten.
Was heißt aber Gesundheit? Die Weltgesundheitsorganisation legt ihren Gesundheitsbegriff seit jeher breit aus, als „einen Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“. Auch wenn dieses Maximalziel in der betrieblichen Praxis dauerhaft kaum erfüllbar sein dürfte, so ist eines deutlich: ein zeitgemäßes Verständnis im Arbeitsschutz geht über die primäre Unfallvermeidung weit hinaus. Als Maßstab dient der gesundheitsfördernde Arbeitsplatz, der Zufriedenheit, Gesundheit und Sicherheit vereint.
Dass ein umfassenderes Verständnis von Arbeitsschutz notwendig ist, wird auch in den Zahlen der Unfall- und Krankenversicherungen erkennbar: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) hat 2022 knapp 791.700 meldepflichtige Arbeitsunfälle registriert – gegenüber dem Vorjahr ein Rückgang von 1,8 Prozent. Enthalten sind auch rund 173.070 Wegeunfälle, die sich zur Arbeit oder auf dem Weg nach Hause ereigneten (plus 1,3 Prozent). Eine gänzlich andere Dynamik indes zeigt die Entwicklung psychischer Erkrankungen. Hier sind die Krankheitstage 2022 erneut auf einen Höchststand und im Zehn-Jahresvergleich um 48 Prozent gestiegen. Die DAK berichtet von einem Rekordhoch an Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen wie Depressionen, chronischer Erschöpfung oder aufgrund von Ängsten. Registriert wurden 301 Fehltage je 100 Versicherte. Den stärksten Anstieg beobachtete die Krankenversicherung bei jungen Berufstätigen im Alter von 25 bis 29 Jahren.

Die Gefährdungsbeurteilung im Mittelpunkt des Arbeitsschutzes

Verändern sich Marktstrukturen, sind meist strukturelle Änderungen in der Organisation erforderlich. Dies hat auch Folgen für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitspatz. Unternehmen sind in den disruptiven Zeiten daher gut beraten, ein neues Bewusstsein für die Gefährdungsbeurteilung ihrer Arbeitsplätze zu entwickeln.
Das Arbeitsschutzgesetz (§ 6 Absatz 1) verpflichtet Unternehmen zu einer regelmäßigen Gefährdungsbeurteilung, die als kontinuierlicher Verbesserungsprozess weiterzuführen ist. Hierauf verweisen die DGUV Vorschrift 1 als Unfallverhütungsvorschrift sowie die DGUV Regel 100-001 mit ihren Grundlagen zur Prävention. Im Mittelpunkt der DGUV Vorschrift 1 stehen die „Beurteilung der Arbeitsbedingungen“ (§ 3) sowie die „Unterweisungen der Versicherten“ (§ 4) hinsichtlich der mit der Arbeit verbundenen Gefährdungen und Präventionsmaßnahmen.
Den Kern der DGUV Regel 100-001 bildet die systematische Feststellung und Bewertung von relevanten Gefährdungen und die Ableitung der entsprechenden Maßnahmen. Genannt wird ein breites Band an Risikokategorien, die typische Gefährdungen für den Gesundheitsschutz darstellen:
  • Mechanische Gefährdungen
  • Elektrische Gefährdungen
  • Gefahrstoffe
  • Biologische Arbeitsstoffe
  • Brand- und Explosionsgefährdungen
  • Gefährdung durch spezielle physikalische Einwirkungen
  • Gefährdungen durch Arbeitsumgebungsbedingungen
  • Physische Belastung/Arbeitsschwere
  • Psychische Faktoren (ungenügend gestaltete Arbeitsaufgaben…)
  • Sonstige Gefährdungen

Arbeitssicherheit: Anspruch und Wirklichkeit

Arbeitgeber haben die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu gewährleisten und Verbesserungen anzustreben. Die Praxis zeigt jedoch, dass bereits bei den Grundlagen der Arbeitssicherheit Nachholbedarf besteht. In einer Forsa-Befragung für den DEKRA Arbeitssicherheitsreport 2023 hat nur die Hälfte der befragten Beschäftigten bestätigt, dass die Regeln des Arbeits- und Gesundheitsschutzes immer beachtet werden würden. Während bei größeren Unternehmen ab 500 Mitarbeiter Arbeitgeber zu knapp 90 Prozent Unterweisungen durchführen würden, findet dies bei kleineren Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden nur zu 46 Prozent statt. Insgesamt sind die am Arbeitsplatz geltenden jeweiligen Sicherheitsregeln bei 70 Prozent der befragten Mitarbeitenden vollständig bekannt. Alarmierend ist allerdings der Befund, wonach etwa nur die Hälfte der Mitarbeitenden und Vorgesetzten die Regeln vollständig im Betrieb einhalten würden.
In der Praxis werden die Arbeitssicherheit und der Gesundheitsschutz häufig den Anforderungen der neuen Arbeitswelten nicht gerecht. In vielen Fällen wird der Arbeitsschutz noch als notwendiges Übel und nicht als Chance verstanden. Wenn DEKRA Experten die Prozesse des Arbeitsschutzes in Unternehmen analysieren, hören sie zu Beginn häufig Aussagen wie: „Das haben wir schon immer so gemacht“, „Bei uns passieren keine Unfälle“. Laut Umfrage kümmerten sich 58 Prozent der Arbeitgeber „sehr“ bzw. „eher stark“ um die Zufriedenheit der Mitarbeitenden am Arbeitsplatz sowie deren Gesundheit und Sicherheit. Und 40 Prozent der Befragten gaben an, dass dies weniger ausgeprägt, bis gar nicht der Fall sei.

Mental Health für den Arbeits- und Gesundheitsschutz

Die Anforderungen der neuen Arbeitswelten gehen über die Unfallvermeidung weit hinaus. Körperliche Gesundheit und die Psyche sind auf vielfältige Art und Weise miteinander verbunden. Unternehmen können durch die psychische Stabilität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Krisen überwinden und die Zuversicht stärken, aktiv die Zukunft mitgestalten zu können. Deshalb sollte die Gefährdungsanalyse keinen Stereotypen folgen. Es gilt, die tatsächlichen Bedingungen, Umfeldfaktoren im Unternehmen sowie deren physischen und psychischen Wechselwirkungen objektiviert zu erkennen und diese zu minimieren.
Auch wenn Programme zur Mitarbeitermotivation, Stressbewältigung und zum Gesundheitsmanagement in zahlreichen Unternehmen mittlerweile über viele Unternehmen verbreitet sind, so werden die negativen psychischen Belastungsfolgen immer noch häufig stigmatisiert. Bewerber und HR-Verantwortliche sehen vielfach Defizite bei Führungskräften, z. B. mit virtueller Führung oder psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden umgehen zu können. Über die Hälfte gibt in der Forsa-Befragung an, dass in ihrem Betrieb keine psychischen Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt werden. Dabei wäre ein Grundverständnis für psychische Belastungsfaktoren eine starke, motivierende Botschaft an die Mitarbeiter und Lieferanten. Hier helfen Managementsysteme, indem sie die zahlreichen Aspekte des Arbeits- und Gesundheitsschutzes systematisieren und objektivieren. Zu empfehlen ist die übergeordnete Norm ISO 45001 sowie die um psychosoziale Risiken erweiterte ISO 45003:2021. Sie liefern für den Aufbau einer gesundheitsfördernden Unternehmenskultur wichtige Bausteine.

Das Management der psychischen Gesundheit

Als erste globale Norm zum Management der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz, unterstützt die ISO 45003:2021 mit praktischen Anweisungen, die psychosozialen Risiken der Mitarbeiter zu erkennen und zu begrenzen. Die Norm ist kein zertifizierungsfähiger Standard. Weil jedoch die meisten größeren Unternehmen nach der ISO 45001 im Arbeits- und Gesundheitsschutz zertifiziert sind, können sie die gesetzliche Pflicht zur Beurteilung der psychosozialen Risiken und psychischen Gefährdungen anhand des Standards nach ISO 45003:2021 umfassend umsetzen und gleichzeitig im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit sehr gute Arbeitsbedingungen schaffen.
Ist das Managementsystem etabliert, wird die Organisation proaktiv gezielt solche Veränderungen erkennen können, die sich auf die psychischen Arbeitsbedingungen auswirken und Anlass zum Handeln geben. Genauso werden die Vorgehensweisen sichtbar, die sich im betrieblichen Alltag bewähren. Dabei sollte insbesondere auf Prozesse geachtet werden, die helfen Risikofaktoren längerer Krankenstände und Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen aufzudecken.
Mit der Einführung eines Managementsystems im Arbeits- und Gesundheitsschutz kann die Organisation ihre Leistungsfähigkeit deutlich verbessern und angesichts der Vielzahl neuer, externer Stressfaktoren weiterhin überlegt handeln. Eine solch gelebte Sicherheitskultur erhöht zudem die Chancen bei der Rekrutierung, Personalbindung und Personalvielfalt.